In meinen 25 Jahren, die ich als Tauchlehrer tätig bin, habe ich natürlich viele teilweise lustige, aber auch dramatische Situationen erlebt. Nun habe ich mich entschlossen, einige dieser Erlebnisse niederzuschreiben.
Aller Anfang ist schwer
Die Motive, warum Menschen tauchen lernen wollen, sind vielfältig. Oft ist es ein neuer Partner, der bereits taucht, oder eine Urlaubsdestination, die den Anlass geben, Tauchen lernen zu wollen. So war das auch bei, ich nenn sie für diese Geschichte, Karin. Karin stand eines Tages in meinem Shop und fragte, ob wir auch Tauchkurse abhalten. Sie habe nämlich für nächstes Jahr einen Malediven Urlaub gebucht und gelesen, dass man dort unbedingt Tauchen gehen muss. Auf meine Frage, ob sie denn schon mal Schnorcheln war, wurde schnell klar, dass Wassersport bis jetzt noch nicht zu den bevorzugten Freizeitaktivitäten gezählt hatte. Aber schwimmen könne sie leidlich. Nur im Meer und im See mache sie das nicht so gerne, wegen der Fische, vor denen hätte sie nämlich ein bisschen Angst. Meine Einwände, dass man die Begegnung mit Fischen beim Tauchen eher nicht vermeiden kann, ja es sogar für viele Taucher Zweck der Übung sei, wurde mit den Worten „Ich find Fische eh schön, nur unheimlich“ weggewischt. Mit anderen Worten, sie war wild entschlossen das durchzuziehen.
Ich erklärte ihr also kurz, wie so ein Tauchkurs abläuft, was man dabei lernt und wofür das alles gut ist. Nach 10 Minuten war sie bereits so enthusiasmiert, dass ich sie kaum davon abhalten konnte, sich gleich jetzt und sofort die komplette Ausrüstung zu kaufen. Meinen Argumenten in Bezug auf „Du weißt ja noch nicht mal ob dir das gefällt“ und „Komm doch erst mal zum Schnuppertauchen“ war Karin nicht wirklich zugänglich. Um ihre offensichtliche Enttäuschung darüber, dass ich nicht wollte, dass sie sich jetzt gleich mit allem eindeckte, ein bisschen abzumildern, erklärte ich mich bereit Ihr zumindest Maske Schnorchel, Flossen und Booties zu verkaufen. Denn die könne man ja nun wirklich immer brauchen.
Meine Idee mit dem Schnuppertauchen wurde allerdings verworfen, Karin beharrte darauf hier und jetzt die Kursanmeldung auszufüllen und den Kurs auch gleich zu bezahlen. In jener Zeit – es war Ende der 90er Jahre, erlebte das Tauchen einen wahren Boom. Wir starteten jede Woche mit neuen Anfängerkursen. Karin musste also nicht lange warten, um mit ihrem Tauchabenteuer zu starten. Schon am nächsten Tag startete ein Anfängerkurs, und für das Wochenende war auch schon das erste Training im Schwimmbad angesetzt.
Nach dem ersten Schwimmbadtraining, das ich damals nicht selbst durchgeführt hatte, wendete sich der leitende Tauchlehrer an mich und meinte, dass es mit Karin etwas schwierig wäre. Es schien so zu sein, dass sie über Wasser dem Unterricht bestens folgen könne und auch keine Verständnisprobleme zu bemerken wären. Aber so wie sie unter Wasser sei, schien alles gelöscht zu sein. Sie atme zwar normal, reagiere aber überhaupt nicht auf Handzeichen. Und wenn man Ihr eine Übung vormache und sie auffordere diese nachzumachen, schaue sie einfach nur ohne etwas zu machen. Ich hatte nicht wirklich eine Idee, was hier das Problem sein könnte. Nachdem wir das noch einige Zeit durchdiskutiert hatten, entschied ich, Karin aus dem normalen Kurs herauszunehmen und mit ihr im Einzelunterricht weiter zu machen.
Beim nächsten Schwimmbadtraining übernahm ich also den Unterricht für Karin. Bei der Vorbesprechung erklärte ich ihr im Detail alle Übungen, die für dieses Training auf dem Plan standen und legte nochmal besonderes Augenmerk auf die Handzeichen und deren Bedeutung. Karin machte einen sehr aufmerksamen Eindruck auf mich und schien sich auch durchaus auf das Training zu freuen. Auch bei der Vorbereitung der Ausrüstung konnte ich keine Unsicherheit oder Nervosität bemerken, was mich ehrlicherweise schon ein bisschen am Tauchlehrer zweifeln ließ.
Im Wasser wurde ich dann aber schnell eines Besseren belehrt. Nach dem Abtauchen knieten wir uns auf 2 Metern Tiefe hin und ich zeigte Karin an, dass ich Ihr eine Übung vorzeigen würde. Ich kann nicht mal sagen sie ignorierte mich. Denn ich schien einfach nicht vorhanden zu sein. Null Reaktion. Ich fragte, ob sie OK sei. Null Reaktion. Ich wedelte mit meinen Händen vor Ihrem Gesicht herum. Keine Reaktion. Sie schien mich nicht zu sehen. Die Atmung war aber ruhig und normal, sie schien keinen Stress zu haben. Sowas hatte ich noch nie gesehen.
Ich versuchte es mit dem Zeichen für auftauchen. Als sie auch darauf nicht reagierte, blies ich Luft in ihr Jacket und tauchte mit ihr auf. „Warum sind wir schon aufgetaucht?“ Das war das erste, das ich an der Oberfläche hörte. Meine Frage, ob sie mich denn unter Wasser sehen könne, wurde bejaht. Auf meine Frage, ob sie denn auch meine Handzeichen gesehen habe, meinte sie, dass sie nichts wahrgenommen hätte. Es war wohl offensichtlich so, dass das Atmen ihre gesamte Aufmerksamkeit benötigte und alles andere wurde ausgeblendet. Eigentlich schaute das alles aus wie eine stille Panik, aber Karin schwor mir, dass sie sich zwar ein etwas unsicher fühle, aber ganz sicher nicht panisch.
In den folgenden Wochen gingen wir dazu über, in einer 1:1 Situation und kleinen Schritten zu trainieren. Dabei zeigte sich, dass sich die Aufnahmebereitschaft und die Kommunikationsfähigkeit unter Wasser deutlich besserte. Allerdings dauerte es in Summe 5 Monate bis Karin Ihre Ausbildung auch im Freiwasser abschließen konnte.
Eine mögliche Ursache für ihre Schwierigkeiten offenbarte sich, als Karin ihrer Mutter davon erzählte, dass sie einen Tauchkurs besuche. Da erinnerte sich die Mutter daran, dass Karin als kleines Kind mit knapp 2 Jahren während eines Urlaubs an der Adria von einer Brandungswelle erfasst worden war und unter Wasser gezogen wurde. Glücklicherweise wurde Karin damals schnell gefunden und gerettet. Niemand in der Familie hatte diesem Vorfall besonders große Bedeutung zugemessen, und er geriet in Vergessenheit. Offensichtlich hatte aber Karin an diese Geschichte eine unbewusste Erinnerung.
Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, jeden Schüler als Individuum zu sehen, auf seine Probleme und Bedürfnisse einzugehen und nicht die Geduld zu verlieren. Karin hat ihren Malediven Urlaub gemacht, war dort jeden Tag tauchen und hatte nach Ihren eigenen Worten, die beste Zeit ihres Lebens. Tauchen wurde für viele Jahre, zumindest solange wir noch Kontakt hatten, zu einem fixen Bestandteil Ihres Lebens. Ich hoffe, sie taucht noch immer. Denn ich kenne bis heute niemanden der seine Tauchausbildung mit so viel Beharrlichkeit verfolgt hat.